Aleksandr Veprik

*  23. Juni 1899

†  13. Oktober 1958

von Jascha Nemtsov

Essay

Veprik integrierte in seinem Schaffen beide Linien der russischen Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts: die Petersburger Linie (Stravinskij, Prokof'ev), die von der Tradition des „Mächtigen Häufleins“ ausging, und die Moskauer, die vor allem durch die übermächtige Gestalt Aleksandr Skrjabins repräsentiert war. Zum entscheidenden Impuls für seine stilistische Entwicklung wurde aber die Bekanntschaft mit der jüdischen Musik, zuerst mit ihren liturgischen Traditionen, dann, ab 1926, mit der weltlichen Folklore.

In seinem programmatischen Artikel Tvorčestvo Bartoka i problema folklora [Bartóks Werk und das Problem der Folklore] (1929) berief sich Veprik auf eine Passage aus der „Selbstbiographie“ (1921) von Bartók, die das Heranreifen auch seines eigenen – jüdischen – Stils genau beschreibt: „Das Studium all dieser Bauernmusik war deshalb von entscheidender Bedeutung für mich, weil sie mich auf die Möglichkeit einer vollständigen Emanzipation von der Alleinherrschaft des bisherigen Dur- und Moll-Systems brachte […] Es erwies sich, daß die alten, in unserer Kunstmusik nicht mehr gebrauchten Tonleitern ihre Lebensfähigkeit durchaus nicht verloren haben. Die Anwendung derselben ermöglichte auch neuartige harmonische Kombinationen. Diese Behandlung der diatonischen Tonreihe führte zur Befreiung von der erstarrten Dur-Moll-Skala und, als letzte Konsequenz, zur vollkommen freien Verfügung ...